Beerdigung auf Russisch

Mein Großvater ist  vor zwei Wochen gestorben. Er war alt. Er war jahrelang krank und hatte eine schwere Demenz im Endstadium und um ehrlich zu sein, ich kannte ihn als Mensch nicht wirklich gut.

Und trotzdem habe ich geweint und trotzdem habe ich getrauert.

Als er gestürzt ist vor drei Wochen habe ich ihn im Krankenhaus besucht. Er hat schwer, sehr schwer geatmet und hatte Schmerzen und ist an diesem Abend für uns das erste Mal in diesem Tag aufgewacht. Mich hat er schon lange vergessen. Aber meine Mutter erkannte er ab und zu bei Besuchen. An diesem Abend habe ich ihn auf die Stirn geküsst und mich verabschiedet. Ich habe mir nicht gewünscht, dass er stirbt. Aber ich habe mir gewünscht, dass seine Schmerzen vorübergehen und er nicht leiden muss.

Das ist ein großer Unterschied. Mein Großvater war religiös. Und zwar zutiefst religiös. Dass Gott diesen Weg für ihn gewählt hat, war seine persönliche Bürde und Last, die er bis zum Ende mit Würde getragen hat. Er selbst zu mindestens. Er hätte sich nicht gewünscht früher zu gehen als Gott es gewollt hat und gleichzeitig hat ihn niemand gefragt.

Wenn wir ihm bei unseren Besuchen früher Eis oder so etwas mitgebracht haben, dann hat er sich riesig gefreut. Da spielt es keine Rolle, ob man dement ist oder nicht. Liebt wie Kinder und ihr werdet selig.

Es ist das eine ihm zu wünschen, dass er von Leid und Last befreit wird. Das andere ist es für seinen Ehemann, der noch lebendig im Krankenhaus liegt einen Anzug für die Beerdigung zu kaufen. Selbst ich finde das makaber und verstörend. Aber vlt. war es für meine Großmutter der erste Schritt zur Trauerarbeit. Hier muss ich nochmal betonen – DAS ist wirklich unüblich! Und zwar in jeder Kultur…

Die Beerdigung meines Großvaters hat mich schockiert.

Ich weiß nicht warum, aber meine Großeltern hatten zu mir (und meinem Bruder) nie ein enges Verhältnis. Und ich bin nicht sicher, ob sie uns über das Maß der Pflicht hinaus geliebt haben. Enger war es bei einigen meiner anderen Cousinen und Cousins. Ein paar meiner Tanten und Onkel und Cousins und Cousinen und seine noch lebenden Geschwister haben geweint. Aber ein paar meiner Verwandten und vor allem die, die zu ihm das beste Verhältnis hatten als er noch am Leben und noch nicht dement war, kamen mir vor als wären sie auf der Beerdigung eines Fremden.

Man mag sich fremd sein, aber wenn meine seine Mutter trauern sieht, um diesen Verlust, empfindet man nicht mit?

Mein Großvater war kein perfekter Mensch, aber er war ein guter Mensch. Er und meine Großmutter haben jeden Cent den sie hatten entweder der Kirche oder ihren Kindern gegeben. Als wir die Fotoalben nach einem Bild durchgesehen haben, habe ich Bilder von meinem Opa gesehen wie er Wurst gemacht hat, wie er gegrillt hat, bei Familienfeiern und co. Und wie er mit meinen Cousinen gespielt hat.

Es gibt so wenige Bilder von ihm aus seinem Leben in Kasachstan. Er ist wie viele Russlanddeutsche Anfang der 90ger nach Deutschland migriert als die Sowjetunion zusammengebrochen ist.

Das ist auch Teil dieses Lebens. Vielleicht auch Teil des Fremdseins und der Entfremdung in diesem Teil meiner Familie. Mein Großvater war zwei Menschen.

Der eine Mensch- über diesen erzählt meine Mutter die schönsten Kindheitsgeschichten –  wie er mit ihr Schaschlik essen ging- wie der Bus einmal einfach weitergefahren ist und er sie mit dem Taxi holen musste – wie er immer mit ihr Eis essen ging. Wie er sich als Autodidakt selbst viel beibrachte. Sie erzählt Geschichten von diesem politisch interessierten Menschen, der Artikel schrieb in den lokalen Zeitungen. Artikel in denen er das System hochhielt und auch den Atheismus.

Dann gibt es diesen anderen Menschen. Wie er nach Deutschland kam. Wie der Kontakt zu seinen methodistischen Geschwistern stärker wurde. Wie er der methodistischen Kirche beitrat und sich taufen lies. Wie er bei gemeinsamen Familienfeiern Gespräche unterbrach, um Stunden aus der Bibel zu lesen. Als Kind fühlte es sich zu mindestens wie Stunden an. Wie fremd er seinen atheistisch erzogenen Kindern daher immer wurde und vielleicht auch seinen Enkelkindern.

Das war der große Bruch in seinem Leben und sein stärkstes Bedauern. Trotzdem half man sich. Trotzdem besuchte man sich. Aber man sprach glaube ich nicht mehr dieselbe Sprache. Seine Sprache war geprägt von Schuld, Büße, Sühne, Reue. Die Sprache seiner Kinder war eine Alltagssprache über alltägliche Probleme, Sorgen, Nöte, und Freuden.

Bei einem methodistischen Gottesdienst und diesem Fall einer Beerdigung werden zwei Sprachen gesprochen in den russlanddeutschen Gemeinden und zwar natürlich russisch und deutsch.

Die Beerdigungen laufen ähnlich ab, wie deutsche und wie russische und wie russlanddeutsche und in diesem Fall haben sie noch spezielle methodistische Elemente.

Mein Großvater wurde aufgebahrt. Wie es immer gemacht wird, sodass die Trauergäste die Möglichkeit haben sich zu verabschieden. Es liegen Kränze dar von den Kindern und der Gemeinde. Aber viele Frauen tragen Röcke und ein leichtes Kopftuch. Nach dem Ende der Aufbahrung und dem Schließen des Sarges kommt die Predigt. Normalerweise eine kurze Predigt übe das Leben und den Tod und den Menschen, den man an diesem Tag verabschiedet. In einem methodistischen Gottesdienst ist die Predigt eine Stunde lang (oder auch mal länger). Zweisprachig wird man immer und immer wieder auf die eigenen Sünden und die ewige Verdammnis hingewiesen. Ich bin Christ und bei dieser Begräbnispredigt selbst fast vom Glauben abgekommen. Und nach dieser schuldbeladenen Predigt kam tatsächlich eine zweite (diesmal einsprachige) Predigt auf Deutsch eines einfachen Gemeindemitglieds. Ich glaube dieser sollte ein paar persönliche Worte über meinen Großvater sagen. Aber auch hier ging es wieder darum, warum man an Gott glauben sollte und dass die Ewigkeit sonst erreicht werden kann usw. usw. Er hat den Lebenslauf meines Großvaters am Ende seiner Rede wie einen Polizeibericht vorgetragen. Jahr der Geburt, Anzahl der Kinder, Anzahl der Enkelkinder usw. Aber er hat auch nur den einen Teil erzählt, den letzten, deutschen, religiösen Teil. Nichts über den Mann, der mein Großvater in Kasachstan war. Über die ersten Jahre. Den Krieg. Die Kindheit. Die Kinder.

Meine angeheiratete Tante saß vorne bei uns und hat auf die Predigt mit derselben Reaktanz reagiert, wie auch ich anfangs. Jedoch hat sie gar nicht mehr aufgehört den Kopf zu schütteln und auch halb laut Kommentare von sich zu geben. Die Wahrheit ist aber und als mir dies klar wurde, konnte ich den Gottesdienst so akzeptieren wie er war:  „Egal, ob die Leute uns versuchen hier gerade zu bekehren oder nicht. Das ist genau der Gottesdienst den Opa gewollte hätte.“ Und dies habe ich meiner Tante auch gesagt.

Es hat nicht geholfen.

Eine andere Wahrheit ist auch, dass Methodisten trotz ihrer strengen Lebensweise in vielerlei Hinsicht toleranter sind als andere Glaubensgemeinschaften. Sie heiraten früh. Sie haben keinen Sex vor der Ehe. Sie verhüten nicht und bekommen viele Kinder. Sie sehen kein Fern und konsumieren Meiden nur auf eine Weise, die sie nicht vom Glauben abbringt. Sie arbeiten hart und viel und lieben einander und nennen die anderen Gemeindemitglieder daher auch „Bruder“ und „Schwester“.

Ich bin ohne Kopftuch und mit Hose in die Kirche gegangen und niemand hat sich daran gestört. Die Leute haben uns aufgenommen, haben uns bedient beim Essen und wir haben die Gastfreundschaft Ihrer Kirche empfangen.

Zu Gast sein in einer Kirche ist etwas Besonderes und dies sollte man respektieren. Zumal in einer Kirche oder Glaubensgemeinschaft, die trotz ihrer Strenge anderen gegenüber offen ist. In einer orthodoxen Kirche hätte man mich gebeten ein Tuch auf meinen Kopf zu legen. Eine Moschee darf man meist nicht betreten als nicht Muslim. Auch in hinduistischen, jüdischen und anderen Gotteshäusern wird man (zu recht) gebeten die kulturellen und religiösen Regeln zu befolgen.

Umso mehr sollte man die Menschen respektieren, die für uns als Trauergäste gekocht und gearbeitet haben, auch wenn einem deren Glaube und deren Lebensweise ganz fremd ist.

Meine Cousine hat es für nötig empfunden während des Leichenschmauses sehr lautstark zu äußern, wie naiv sie die Lebensweise der Methodisten findet. Obwohl links neben ihr zwei (sehr alte) methodistische Frauen saßen. Aber wenn man alt ist, zählt man wohl nicht. Oder meiner Cousine war es einfach egal. Ich empfinde so ein respektloses Verhalten – dieses von oben herab urteilen – umso schlimmer, wenn es einem nicht zusteht. Die Menschen in der Kirche dort mögen tatsächlich feste Regeln im Leben brauchen und sie brauchen vlt. auch jemanden, der ihnen sehr stark vorgibt, was richtig und was falsch ist und wie man richtig zu leben hat. Aber am Ende sind sie sehr sehr ehrlich, sehr fleißig und sorgen sich um ihre Kinder und umeinander. Meine Cousine hingegen – sagen wir mal so – hat keinen Grund auf andere von oben herabzusehen.

Aber dies könnte man über uns alle sagen. Wer ist schon so gut auf andere herabzusehen? Was wissen wir schon über die Nöte der anderen und den Kampf der sie im Leben begleitet?

Ich hatte nie ein Verhältnis zu meinem Großvater, aber wer bin ich es, dass ich über ihn urteilen könnte? Ich werde vielen Menschen in meinem Leben selbst nicht gerecht. Das merke ich, wenn meine Freundinnen mich bitten öfter anzurufen oder meine Mutter mich (zu) lange beim Abschied umarmt oder wenn mein Freund mir sagt, dass wir zu viel streiten.

Mein Großvater ist vielen Menschen nicht gerecht geworden und am Ende wahrscheinlich am wenigsten sich selbst in diesem getrennten Leben.

Aber was bleibt, ist ein Raum voll mit diesen Menschen, denen er zwar nicht immer gerecht werden konnte, aber die da waren, um ihn in diesem Leben zu verabschieden.

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